2023-24

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Kleines Haus

Goldfisch-Variationen (UA)

2011-12

32 unterhaltsame „Tanz-Miniaturen“

Eine ganz andere Handschrift zeigt Annett Göhre jetzt in Gelsenkirchen in ihren „Goldfisch-Variationen“ als vor knapp zwei Jahren am Beginn des Kulturhauptstadtjahres RUHR2010. Damals beeindruckte die Tänzerin und Choreografin in der St. Georgs-Kirche mit einem zweiteiligen getanzten Musiktheater-Programm, das 400 Jahre Operngeschichte umspannte. Kompositionen Monteverdis, zusammengefügt unter dem Titel „Lamenti über Liebe und Tod“ für Sopran und Orchester, choreografierte sie mit den Tänzern des „Ballett Schindowski“ als hochsensible Duette, Solos und Ensembles. Morton Feldman’s Einakter „Neither“ dagegen konterkarierte sie mit einem surrealistischen Video aus Tänzer-Gesichtern in Nahaufnahme, Gliedmaßen, Kleiderfetzen, verschwommenen Gesten und Posen. Wie die Zärtlichkeit und Melancholie in Monteverdis Musik so fing sie Feldman’s raumgreifenden, schwebenden Klang superb ein. 
Nun also gab’s zum Auftakt der Interim-Saison zwischen Bernd Schindowskis Abschied und Bridget Breiners offiziellem Start als Chefin des „Ballett im Revier“ mit Beginn der Saison 2012/13, im Kleinen Haus des „MiR“ (Musiktheater im Revier) die Uraufführung ihres Tanzstücks „Goldfisch-Variationen“ mit demselben 13-köpfigen Ensemble, ergänzt durch einen (Papp-)Goldfisch in seinem runden „Glashaus“. Der augenzwinkernd witzige Titel hält, was er verspricht: Scherz, Satire, Ironie - und kaum tiefere Bedeutung. Bachs „Goldberg-Variationen“ haben den amerikanischen Jazz-Pianisten und Komponisten Uri Caine in seinen „The Goldberg-Variations“ zu stolzen 70 Variationen animiert. In einem Parforceritt blättert er die Musikgeschichte bis zum 21. Jahrhundert auf. Göhre hat sich rund die Hälfte davon ausgesucht und präsentiert dazu Tanzminiaturen in der effektvollen Ausstattung ihres polnischen Dramaturgen Jan Adamiak (Kostüme: Andreas Meyer). Repetitor Salvador Caro darf Bachs zarte „Aria“ zu Beginn und ganz am Ende spielen, wird dazwischen aber meist von der Musikkonserve ersetzt, so dass er mal quer über die Bühne schreitet oder mal die Konfettischnipsel wegfegen hilft, die Mami Iwai, aus der Versenkung auftauchend, mit verschmitztem Grinsen aus der Pistole geschossen hat. Die kleine Japanerin ist, wie auch die Amerikanerin Ruth Olga Sherman und der Russe Pavel Roudov, immer wieder für einen Scherz zu haben, während die schöne Alina Köppen in roter Robe mit exaltiertem Hüftschwung und Augenaufschlag ganz Diva mimt. 
Überhaupt ist es ein Riesenspaß, diese Tänzer und Tänzerinnen von ganz neuen Seiten kennen zu lernen. Köstlich die Italienerin Priscilla Fiuza in „Signboard“ mit bedruckten Holzplanken voller Unwahrheiten über sich selbst. Oder der sonst maskenhaft ernste Taiwanese Min-Hung Hsieh überraschend cool und köstlich selbstironisch in Nr. 14 „Mins Seven“. In zwei der schönsten Szenen erinnert Göhre an Pina Bausch: „For Pina“ zitiert deren legendäre „Nelken“. In der prallen Tango-Nummer wabern Nebelschwaden über den Boden. Sechs Tänzer in Glockenrock-Kleidern rutschen auf Knien hindurch, weiße Nelken zwischen den Zähnen, die sie schließlich dem Goldfisch ins nasse Element reichen. Gleich danach darf das Tierchen sich auf den letzten Stuhl in die Rampenriege reihen. Nur bleibt es stumm wie..., während die anderen aus ihrem Leben plaudern. 
Originell wirken der „Robotdance“ und die beiden ähnlich marionettenhaften Tänzchen auf Bachs „Aria“. Hatten sich die unter dem roten Samtvorhang verborgenen, reglos ausgestreckten Tänzer zu Beginn langsam und steif wie Puppen erhoben, gefrieren sie am Ende plötzlich, als sei die Walze der Spieluhr abgelaufen. Das ist zwar recht raffiniert konzipiert, das Publikum jedoch war zunächst verblüfft, spendete dann aber herzlichen Applaus.

tanznetz.de

Verjuxte „Goldfisch-Variationen“ am MiR

Ein halbes Dutzend junger Frauen rast in Unterwäsche einem Mann hinterher, der ihre Brautkleider gerafft und sich davon gestohlen hat. Sie überwältigen ihn, streifen sich die Kleider über, und zu ausschwingenden Klezmer-Klängen hebt wie im jiddischen Schtetl stilvoll ein Hochzeitstanz an. Es ist einer von vielen witzigen Einfällen und schon einer der pfiffigsten in Annett Göhres Tanzabend „Goldfisch-Variationen“. Mit dem ehemaligen Ballett Schindowski, das sich nach Bernd Schindowskis Abschied nun Ballett im Revier nennt, serviert die Gastchoreografin im Kleinen Haus des Musiktheaters im Revier (MiR) einen Kessel Buntes mit kurzen, mitunter tatsächlich kurzweiligen musikalisch-szenischen Verwandlungen und Anverwandlungen.
Und dafür greift sie zu allererst auf Johann Sebastian Bachs Goldberg-Variationen zurück. Sie sind der Inbegriff vollendeter barocker Variationskunst. Bernd Schindowski hätte sie in ihrer perfekten Symmetrie gewiss gern stilvoll und doch gewitzt im Original tanzen lassen.
Annett Göhre geht freilich einen Schritt weiter und zugleich davon ab, wenn sie nur drei Mal Bach im Original zitiert und sich ansonsten reichlich bei Uri Caine, dem New Yorker Jazzpianisten und Komponisten, und dessen mitunter eng dem Vorbild verhafteten, überwiegend aber völlig frei Tanzformen des zwanzigsten Jahrhunderts zitierenden Variationen bedient. Von Uri Caines 70 Varianten erklingen 28 vom Band. Und dabei geht es auch um die Gratwanderung zwischen Zitat und Kopie im Umgang mit dem Original.
Ballett-Pianist Salvador Caro hat wenig zu tun. Nicht einmal Bachs einleitende Aria, der noch ein wummernder elektronischer Caine-Prolog vorangestellt ist, darf er zu Beginn, sondern erst am Ende live am Flügel spielen. Dafür verdingt er sich nach dem Knalleffekt einer Konfetti-Kanone (Bühne: Jan Adamiak) mit großem Besen zum Kehraus.
Die dunkelhaarige Brasilianerin Priscilla Fiuza kokettiert voller triefender Ironie mit dem Klischee der Playboy-Blondine. Zum Gospel treten die Tänzerinnen im Petticoat an (Kostüme: Andreas Myer). Im Wiegetanz persifliert die 13-köpfige Truppe barocke Girlanden. Im Tango-Wiegeschritt huldigt sie Pina Bausch. Und in babylonischem Sprachgewirr zetert sie drauflos. Annett Göhre bietet von allem Etwas und auch wenig kunstvollen, nur anfangs synchronen Tanz. Das Ballett im Revier ist mit Feuereifer dabei. Und doch hinterlässt der zeitweilig prickelnde Abend einen schalen Nachgeschmack. Er bietet ein Allerlei, nichts Halbes und nichts Ganzes und wirkt so künstlich und gekünstelt wie der Plastik-Goldfisch im schwappenden Glas. Schon vor der Pause hängt das Potpourri arg durch,  und danach strapaziert Annett Göhre ihr Publikum nur noch mit unausgegorenen Häppchen. Dafür gab es verhalten freundlichen Beifall, aufgemischt durch einige aufgekratzte Claqueure.

Recklinghäuser Zeitung

Die Nach-Schindowski-Ära am Musiktheater im Revier hat begonnen – eine Übergangsspielzeit ohne Tanzchef und mit Gastchoreografen.
Aus dem Ballett Schindowski wurde das „Ballett im Revier“, mit dem die Münchnerin Annett Göhre nun ihre „Goldfisch-Variationen“ uraufführte. Verspielt,
witzig, facettenreich – aber es ist kein großer, überzeugender Wurf. Eher eine hübsche Petitesse mit Oberflächenglanz. In den freundlich-verhaltenen Beifall mischten sich spät einige Bravos. Die 13 wunderbaren Tänzerinnen und Tänzer aus der ehemaligen Schindowski-Compagnie kreisen nicht ums goldene
Kalb, sondern um den künstlichen Goldisch im Wasserglas. Eine gequälte Verballhornung der musikalischen Vorlage, Johann Sebastian Bachs „Goldberg-Variationen“ sind ja eine Art Vaterunser der klassischen Variationskunst, die den amerikanischen Jazz-Musiker Uri Caine zu Bearbeitungen inspiriert haben. Aus 70 Spielarten des Originals vertanzte Göhre 32 Szenen, die sich als kleine Miniaturen wie eine Perlenkette aneinanderreihen, mal erzählerisch, mal abstrakt, mal in überraschenden Brüchen, mal mit enervierenden Gags. Leider gegen Ende hin auch mit Längen, zumal die Szenencollage
aus gezielten Stilbrüchen die angesetzte Pause nicht verträgt. Die Musik kommt aus der Konserve, nur ein paar Mal greift Salvador Caro live in die Klaviertasten. Die Tänzer beginnen feierlich vor rotem Samtvorhang, bedienen frech die Konfetti-Kanone, fischen grüne Äpfel vom Himmel oder
schwimmen mit bunten Badekappen über die Bühne (mit schönen Einfällen von Jan Adamiak). Die Produktion überzeugt immer dann, wenn die Compagnie im Ensemble tanzt, in weißen Petticoats zum Gospel-Sound, in Tüllkleidern zum Klezmer-Klang, in langen Röcken zum Tango (eine charmante Verbeugung vor Pina Bauschs „Nelken“). Ein herrliches Solo tanzt Alina Köppen. Bei manchem Gag fischt die Choreografin indes im Trüben, etwa wenn Priscilla
Fiuza sich wie ein Nummerngirl mit Maßangaben anpreist. In der nächsten Spielzeit übernimmt die Amerikanerin Bridget Breiner die Tanz-Compagnie des Musiktheaters, die Bernd Schindowski 33 Jahre lang geprägt hatte. Als Gast zeigt sie ab 14. Januar ihre Choreografie „Großstadt- Triptychon.


Westdeutsche Allgemeine Zeitung (Kultur)

Ein Hauch von Pina

(...) Recht gelungen ist der Beginn des Abends, wenn zu einer Klangcollage, die als "The Eternal Variation" noch keinen Bezug zur folgenden Aria erkennen lässt, der rote Samtvorhang, der zu Beginn auf der Bühne liegt, nach oben gezogen wird und die in Zweierpaaren auf der Bühne liegenden Tänzerinnen und Tänzer freigibt. Zur einleitenden Aria bewegen die Tänzer zunächst nur ihre Arme, bis über den Oberkörper ganz langsam der ganze Körper zum Leben erwacht. Dann öffnet Mami Iwai mit einem lauten Knall eine Klappe im Bühnenboden und wirft neben bunten Papierschnipseln den Goldfisch in einer Tüte auf die Bühne. Mit einer "Singing Variation" deutet sie an, dass es im Folgenden um Abwandlungen dieser eingangs gehörten Aria geht. Dabei wird sie von dem Pianisten Salvador Caro unterstützt, der ihr in die Melodie hineinhilft und gemeinsam mit ihr die Bühne fegt. Ob die Papierschnipsel für die nun folgenden Variationen stehen, bleibt der Fantasie des Zuschauers überlassen. (...) So gibt es am Ende großen Applaus für ein Ensemble, das auch unter neuer Ägide durch Vielseitigkeit überzeugen kann, und einen Abend, der kurzweilig mal mit Humor, mal mit Melancholie unterhält.

Online Musik Magazin

Does Humor belong in Music?

Mit den „Goldfisch-Variationen“ – einem Tanzstück auf der Basis von Uri Caines Bearbeitung und Weiterführung der Bachschen Goldbergvariationen – läutet Gastchoreographin Annett Göhre die Post-Schindowski-Ära im Ballett des MiR ein.
„Does humor belong in music?“, fragte einst Frank Zappa. In der Beantwortung der Frage sind ihm viele gefolgt – bis hin zu den Beastie Boys und Helge Schneider. Und auch die Antwort, die Annett Göhre mit ihren „Goldfisch-Variationen“ gibt, fällt positiv aus.
Das Stück erzählt keine Geschichte. Es zeigt auch keinen einheitlichen Geistes- oder Gemütszustand. Vielmehr bestehen die „Goldfisch-Variationen“ aus einer Reihe in sich geschlossener Miniaturen, die mit den Mitteln des Tanzes fortführen, was schon Johann Sebastian Bach mit seinen lange übersehenen und erst von Glenn Gould in den 50er Jahren in den Klassik-Olymp gehobenen Goldberg-Variationen zeigte (und im Übrigen auch Uri Caine mit seinen Arrangements und kompositorischen Fortsetzungen leistet): Was ist aus einer Idee heraus alles machbar? Wieviele Möglichkeiten bieten sich mir?
Das Ergebnis kann sich sehen lassen. Unter Göhres Choreographie entstehen zum Teil sehr komische Szenen, deren Humor sich aus der jeweiligen Situationskomik speist. Dabei macht sich Göhre auch die internationale Vielfallt innerhalb der Compagnie zu Nutze und inszeniert u.a. ein babylonisches Sprachgewitter, wobei die im Kern gute Idee vielleicht ein, zwei Mal zu häufig ausgeschlachtet wird.
Göhre lässt sich Zeit für Miniaturen, in denen Anmut und Ausdruckskraft der Tänzerinnen und Tänzer das Publikum zu verzaubern vermögen. Die „Goldfisch-Variationen“ mögen kein großer Wurf in der Welt des Balletts sein. Der Besuch des Stücks lohnt sich allemal – allein schon um zu sehen, wie Göhre der Compagnie, neben den altbekannten Stärken, komisches Talent herauskitzelt.

Stadtspiegel Gelsenkirchen

Goldfisch-Variationen (UA)

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